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Rita von Gaudecker im AlterRita von Gaudecker im AlterRita von Gaudecker – ihr Leben und ihr fortwirkendes Werk

Rita von Gaudecker wurde am 14.4.1879 als Tochter des Rittergutsbesitzers Baron von Blittersdorff in Molstow im Kreis Greifenberg und der Ada von Behr, einer Baltin, geboren. Die Mutter starb im März 1885, weil eine Wochenpflegerin sie mit Scharlach angesteckt hatte. Die knapp sechsjährige Rita blieb wochenlang schwer krank. Dann kam die Gräfin Hedwig Keyserling aus Kurland, um Mutterstelle zu vertreten. Sie blieb bis 1906, als die jüngste Schwester geheiratet hatte. Rita wuchs als Landkind auf, wurde mit ihren Schwestern zu Hause unterrichtet, nur zum Konfirmandenunterricht fuhr sie nach Treptow zum Pastor der dortigen alt-lutherischen Kirche am Rande der Altstadt. Sie lebte in großer Nähe zu den Dorfleuten, allen Tieren auf dem Hof und der sie umgebenden Natur mit ganz besonders inniger Verbindung zu der Linde vor dem Hause. 1904 heiratete sie den aus einer pommerschen Familie stammenden Kapitän Gerhard von Gaudecker. Weil die Ehe leider kinderlos blieb, kümmerte sie sich intensiv um andere Kinder.

 

Nach einer Predigt des Hofpredigers Stöcker über die seelische Not der Hausangestellten aus dem Osten gründete Bertha von Kröcher 1885 den „Kapellenverein“, der die Friedenskirche in Berlin erbaute. Als diese Arbeit nicht mehr so dringend war, wandte sie sich der Kinderarbeit zu und kümmerte sich um heimatlose und misshandelte Kinder, die in einem Heim außerhalb von Berlin erzogen wurden. 1914 übergab sie Rita von Gaudecker die Leitung der „Jugendhilfe“. Seit 1914 gab sie dafür die Monatszeitchrift „Wir wollen helfen“ heraus, abgekürzt „WWH“. Auf dem Titelblatt sehen wir helfende Kinder unter einem Apfelbaum. Daraus entwickelte sich das Abzeichen des Vereins: goldene Schrift auf blauem Grund. Für die Kinder gab es das Motto „Keines zu klein, Helfer zu sein“: Sie sollten am Sonntag immer einen Groschen für den Helferbund spenden.

 

In den 130 Jahren seines Bestehens hatte der Helferbund nur vier Vorsitzende gehabt, die alle die bisherige Arbeit fortsetzten, aber eins der Aufgabengebiete stärker in den Vordergrund rückten. Für „Tante Rita“ wie sie allgemein genannt wurde, kam nach dem ersten Weltkrieg die „Stille Hilfe“ dazu für Menschen, die durch Krieg, Revolution und Inflation verarmt waren. Etliche konnten sich für ein paar Wochen in Deep erholen und zu neuen Kräften kommen.

 

Die Heime wurden aus der Berliner Gegend nach Deep verlegt, im Winter 1916/17 wird das „Landkinderheim“ erworben, erbaut im Stil der alten Deeper Fischerhäuser. Dort hatte Tante Ritas Familie schon immer die Sommerferien verbracht, und nun zog sie mit ihrem Mann, dem ehemaligen Kapitän, dann im Sommer 1919 ganzjährig dahin. 1920 kam das „Offizierskinderheim“ dazu, in dem die Kinder von gefallenen Offizieren lebten. Wie ärmlich es dort zuging, zeigt die Tatsache, dass es für 19 Kinder nur 8 Paar Schuhe gab, die die Konfirmanden und die Schulkinder abwechselnd trugen. Sie bittet um Spielsachen, Kleidung, Lebensmittel … Die eigene Kuh und der eigene Kartoffelacker machen es leichter, die Kinder im Landkinderheim satt zu kriegen. In der schrecklichen Inflationszeit Anfang der zwanziger Jahre wird die Arbeit durch ausländische Freunde besonders in Holland, aber auch in England, Amerika, Schweden und der Schweiz unterstützt.

 

Daneben gehörte auch ein ererbtes Haus in Kolberg in der Parkstraße dazu, das 1945 zerstört wurde. Dort lebten hauptsächlich Kinder aus ländlichen Familien, die in Kolberg die Möglichkeit hatten, höhere Schulen zu besuchen, außerdem kränkliche Kinder, deren Gesundheit durch Solebäder gestärkt werden sollte.

 

Nach Deep kamen schon Säuglinge, und die Kinder bleiben bis zur Einsegnung und der Schulentlassung aus der achtklassigen Dorfschule in der Obhut von „Mutter Erna“, unterstützt von meistens jugendlichen Helferinnen, die für das leibliche Wohl der Kinderschar sorgten. Erst nach 1945 wurden in den SOS-Kinderdörfern Jungen und Mädchen, große und kleine Kinder gemeinsam erzogen, wie es in Deep schon ab 1919 üblich war. Tante Ritas Aufgabe war es, Spenden im ganzen deutschen Reich für den Unterhalt der Heime einzuwerben. Das machte sie teils durch ihre Rundbriefe, teils durch Besuche in den einzelnen Gruppen. Die Helfer-Kinder machten Aufführungen, Handarbeiten und veranstalteten Basare. In den zwanziger Jahren wurden die Geschichten in den Helferbriefen für die Kinder weniger zugunsten der Berichte aus den Heimen, Spendenaufrufen und Quittungen. Kapitän von Gaudecker wird zum Buchhalter des Helferbundes. Obwohl der berühmte Maler Lyonel Feininger von 1924-1935 jeden Sommer mehrere Monate in West Deep verbrachte, fand ich keinerlei Hinweise, dass er und Rita von Gaudecker damals oder später Kontakt zu einander gehabt hatten, obwohl er später in Amerika immer wieder von seiner Sehnsucht nach dem Ostseestrand bei Deep erzählte.

 

In der Nazi-Zeit, als alles gleichgeschaltet wurde, war es gar nicht leicht, ein christlich geprägtes Heim mit gemeinsamen Andachten, dem Singen der Abendlieder und dem Kindergottesdienst privat weiterzuführen. Es gab einen hohen Nazi, der einst ein Helferkind gewesen war, der seine Hand schützend über die Heime hielt. Die größeren Schulkinder mussten natürlich bei der Hitlerjugend mitmachen, die großen Jungen wurden Soldat, verbrachten ihren Fronturlaub gern in Deep, doch viele von ihnen sind gefallen. Anfang 1945 konnten die Kinder rechtzeitig nach Mecklenburg fliehen, wurden dann wieder zurückgeschickt und überlebten noch einige Monate in Deep, dorthin kamen auch immer wieder neue verlassene Kinder. Adelsfamilien waren in der Russenzeit doppelt gefährdet, ehemalige Offiziere sowieso - Tante Rita und ihr Mann wurden aus Deep vertrieben und lebten irgendwie bis zum Oktober 1945 in der Stadt Treptow, heimgesucht von Hunger und Krankheit.

 

Dann kamen sie über Berlin nach Holstein, wo sie bis 1950 blieben, danach zogen sie zu entfernten Verwandten nach Allmendingen in Württemberg, wo ihr Mann 1954 starb, als sie mit gebrochener Hüfte im Krankenhaus lag und seit dem keine Treppen mehr steigen konnte und sie bis 1968 nur noch in ihrem ihrem großen Turmzimmer lebte, aber noch viele Briefe und Texte schreiben konnte, in Gedanken immer bei der Helferbundarbeit. Nach über 50 Jahren übergab sie die Arbeit an Hildegard Sieveking in Hamburg. Nach dem Kriege gab es keine Heime für Kinder mehr, aber die „Stille Hilfe“, besonders mit Paketen für die Menschen in der damaligen DDR wurde zum Hauptanliegen. Das Vorstandsmitglied Gisela Armbruster, aktiv im Maximilian-Kolbe-Werk, sorgte für eine Satzungsänderung, dass nicht nur Menschen in Deutschland, sondern auch in Polen unterstützt werden sollten. Als ich 1993 Hildegard Sieveking ablöste und die 4. Vorsitzende wurde, baute ich die Hilfe für Menschen in Polen aus und versorgte besonders die Menschen in der doppelten Diaspora, die letzten alten evangelischen Deutschen in Pommern, und waren damit in Tante Rita Heimat zurückgekehrt. Von 2002-2012 finanzierten wir die evangelische Diakoniestation in Köslin im Rahmen einer Anschubfinanzierung.

 

Doch unsere Mitgliederzahlen wurden kleiner, die Zinsraten sanken von 4,5% auf 1 % . Wir mussten uns neu orientieren und besannen uns auf den ursprünglichen Auftrag des Helferbundes: die Arbeit an den verlassenen Kindern. Nun unterstützen wir das Stephanstift in Hannover mit seinen Kindergärten in sozialen Brennpunkten der Stadt Hannover, wo in einer Gruppe Kinder aus mehr als zehn unterschiedliche Nationen zusammenkommen und schulreif gemacht werden sollen. Daneben unterstützen wir besonders die Evangelisationswochen im evangelischen Sommerlager in Stettin für die Kinder aus der Diözese Breslau. Auch wenn wir längst nicht mehr alle Tante Rita persönlich erlebt haben, fühlen wir uns ihrem Werk und seinen Zielen weiterhin verpflichtet und wer es noch kann, fährt jeden Sommer auf Betreuungsfahrt nach Pommern.

 

Neben dem sozialen Engagement muss auch Tante Ritas schriftstellerische Tätigkeit erwähnt werden. Ihre Schwerpunkte waren Andachten und Heimatbücher. Für die Kinder schrieb sie unter anderm „Unter der Molstower Linde“, „Vom Fischerdorf zur Otternburg“, „Die Wendelinkinder in Afrika“, „Der Onkel aus Holland“, „Vom Prinzesschen, das nicht einschlafen konnte“. Viele dieser Bücher waren aus ihren Erzählungen für die Kinder am Sonntagnachmittag entstanden, die Andachtsbücher für den Kindergottesdienst und die Abendandachten. Ihre sehr geliebte Heimat in Deep lebt in den Büchern „Die Frau vom Hofe“ (dies Buch wurde sogar ins Polnische übersetzt), “Das Versprechen“, „Die Lampe in der Nacht“ und vor allem in ihrem Gedichtband „Lieder der Küste“ fort. In den Büchern nach 1946 lebt „die Liebe zur Heimat, die sich wie ein roter Faden durch mein Leben zieht“. Immer wieder spürt man ihr tiefes Heimweh, so auch in dem Schluss des Gedichtes:

Das Herz ist dort geblieben, -

wie könnte es anders sein?

Was wir am meisten lieben,

wird immer unser sein.“

 

Sie starb, ehe es möglich war, wieder nach Pommern zu reisen, und hat ihre Heimat nie mehr wiedergesehen. Dort, wo ihr Geburtshaus in Molstow gestanden hatte, ist jetzt eine Trafostation. Das Gaudecker - Haus in Deep wurde nach dem Kriege zerstört. Eins der Kinderheime steht noch, wurde aber umgebaut, und die Dorfkirche feierte 2013 ihr hundertjähriges Jubiläum. In der altlutherischen Kirche in Treptow in der ul. Zolwia finden immer noch evangelische Gottesdienste, jetzt in polnischer Sprache, statt.

Dr. Rita Scheller, Vortrag anlässlich einer internationalen Konferenz in Treptow / Trzebiatów im Oktober 2015.