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Das Kriegsende in Deep und Robe,  Kreis Greifenberg

In einem Nachlass fand ich ein paar getippte dünne Durchschläge von Rita von Gaudecker (1879-1968). Der eine ist vom 6. Januar 1945 und an alle Gruppenleiterinnen des Helferbundes gerichtet, der andere gedenkt der schlimmen Tage im März 1945. Die Illustrationen stammen aus dem Archiv des Helferbundes Rita von Gaudecker.                                                                    Rita Scheller

 

Erster Helferbericht 1945

Leitwort: „Niemand wird sie mir aus der Hand reißen!“ Joh. 10,28

Rita von Gaudecker 1932Rita von Gaudecker 1932Stünde das Datum nicht am Kopf des Briefes, dann hätte man vermuten können, er sei im Januar 1943 oder 1944 geschrieben, so wenig wird von der schrecklichen Zukunft erwähnt, inhaltlich ist er ähnlich wie die früheren Briefe. Dies Leitwort hatten zwei ahnungslose Fronturlauber unter die Todesanzeige ihrer Eltern und Geschwister gesetzt, die gerade bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen waren. R. v. Gaudecker fährt fort: „Diese große stille Glaubensgewissheit wollen wir uns für das neu beginnende Jahr erbitten, für unsere Helferarbeit, für unsere drei Heime in Deep und in Kolberg, für die Kinder, für unser eigenes Leben, und für alle, die uns in Liebe und Sorge anvertrauten Menschen. Auch alles schon Geopferte und für diese Erde Verlorene schließen wir fest in dies Wort ein.“

 

Dann folgt der einfühlsame Nachruf für zwei junge Soldaten, die im Heim aufgewachsen waren und die im September 1944 gefallen sind und auf die langjährige treue Essener Gruppenleiterin, die mit ihrer einzigen Tochter bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen war. Interessant ist der Dankesteil. Ich bin erstaunt, was alles um Weihnachten 1944 im sechsten Kriegsjahr noch an Hilfe möglich war: „Und nun soll vor allem ein Dank kommen für alles, was  D O C H  noch in der Weihnachtszeit zu mir kam: über 50 Pakete und viel, viel Geld. Ich habe davon etwa 90 Pakete und Päckchen weiter verschickt und annähernd 6.000,- RM „Stille-Hilfe-Gelder“ verteilt. Nicht wahr, da dürfen wir doch wirklich glücklich und zufrieden sein! Wie viel wärmster Dank ist zurück geklungen: aus Mecklenburg, aus Sachsen, Magdeburg, Halle, vom Lande, aus Schlesien kamen viele gute Sachen, Essbares und Kleidung und Bücher. Ich war oft sprachlos vor Freude und vor Staunen. Und so wanderten dann unsere Sendungen nach Marburg und Berlin, in kinderreiche Pfarrhäuser und zu einsamen Frauen, zu jungen Kriegswitwen und Ausgebombten. Es sind sogar noch kleine Reste an Kleidung für besondere Notfälle übriggeblieben Das ist aber ganz sicher: So gefreut hatte ich mich noch nie in den vergangenen Wintern. Mein Mann sagt oft stauend, wenn er mich so beglückt auspacken sah: „Das muss man sagen, du hast wirklich Helfer, die können sich sehen lassen!“ Und das finde ich eben auch!“

 

Deeper KinderheimatDeeper KinderheimatDas Helferhaus in Kolberg war in den Weihnachtsferien leer, weil alle Schulkinder zu den Eltern gefahren waren. Im Haus Jugendhilfe in Deep waren zur Zeit zehn Kinder, die zum Glück alle gesund waren. Dann erinnerte R. v. Gaudecker daran – wie in normalen Zeiten – das für 1945 fällige Mitgliedsgeld  in Höhe von 3 RM an die Sparkasse in Treptow zu überweisen …. Es war nicht mehr möglich, die Adressenänderungen der Mitglieder festzuhalten.

 

Sie schließt ihren Bericht wie immer mit ein paar Versen  - jetzt im Rückblick, lassen sie manches ahnen, was kommen sollte:

                „Es mag sein, dass alles fällt,

                dass die Burgen dieser Welt

                um dich her in Trümmer brechen.

                Halte du den Glauben fest,

                dass dich Gott nicht fallen lässt,

                Er hält sein Versprechen!

                Es mag sein, so soll es sein.

                Fass ein Herz und gibt dich drein,

                Angst und Sorge wird’s nicht wenden.

                Streite, du gewinnst den Streit!

                Deine Zeit und alle Zeit

                steht in Gottes Händen!“

                              Es grüßt in Dank und Treue Eure Tante Rita

 

„Segnet, die euch fluchen!“

Bereits zwei Monate später waren die Burgen dieser (pommerschen) Welt in Trümmer gebrochen. „Es war im März 1945 in den allerersten Tagen nach unserer Vertreibung  aus dem eigenen Haus am Ostseestrand. Wir waren in das Nachbardorf zu unserem Pfarrer geflüchtet (Anm. d. Bearb: Missionar und Pfarrverweser Heinz Trott, der  den abwesenden Pastor Heinz Schauer in Robe vertrat. Deep war die Tochtergemeinde von Robe. Trott lebte 1952/56 in Berlin)) und wurden mit aller selbstverständlichen  Wärme und Treue aufgenommen, so dass eine kleine Hoffnung keimte, hier dürfe man vielleicht doch, nahe der eigenen Heimstatt, in Ruhe bleiben.

 

Diese Hoffnung wurde jedoch schon am nächsten Tage jäh zerstört, denn auch hier tauchten feindliche Gestalten auf und neue Furcht  überwältige unser Herz. Auch andere Verzagte hatten im Pfarrhaus Zuflucht gefunden. Ich sehe uns noch alle um den Mittagstisch sitzen, zum ersten Male am fremden Tisch ohne das ruhige Wissen: „Du bist hier Gast, bald geht es unter das eigene Dach zurück.“  Nein, man saß da beieinander um das tägliche Brot, dessen Fraglichkeit drohte, zugleich mit der plötzlichen Erkenntnis, dass wir nicht sichere Erdenbürger sind, sondern Wanderer, von denen es, wie von den Blumen auf dem Felde heißt: „Wenn der Wind darüber weht, so sind sie nimmer da und ihre Stätte kennet man nicht.“

 

Haus in DeepHaus in DeepBei dieser Mahlzeit klang plötzlich das Hupen eines nahenden und vor der Tür halten den Autos. Schreckhafte Herzen vermuten nur Arges. Als zwei russische Soldaten mit einem polnischen Jungen als Dolmetscher eintraten, saßen wir schweigend, , allen Unheils gegenwärtig. Es wurde gefragt, wo der „Pope“ sei und unser Pastor stand gleich auf. Man winkte ihm mit dem Befehl, allein zu folgen. Uns wurde unbeschreiblich bange. Da wandte er sich uns zu, segnete uns alle und ging ruhig mit hinaus. Ich sehe noch die Pfarrfrau da stehen, neben ihr die zwei Pflegesöhne der kürzlich im Nachbardorf verstorbenen Pfarrfrau, wahrend deren Mann im Felde stand. „Nun heißt es beten“, sagte sie leise, und sowohl sie als auch die beiden Kinder hoben betend die Hände empor.

 

Wir warteten in zitterndem Schweigen auf einen Schuss, auf irgendetwas Furchtbares. Aber nach zehn Minuten trat der Pastor mit den drei Fremden wieder eine und sagte: „Sie wollen Gold, viel Gold. Ich habe ihnen zwar gesagt, dass in einem Pfarrhaus keine Reichtümer zu finden sind, aber sie wollten mir nicht glauben.“  Sogleich löste seine Frau die einzige goldene Nadel vom Kleid und reichte sie hin, während ich in unsere Schlafkammer hinauf lief, die kleine goldene Armbanduhr zu holen, die sonderbarer Weise bei der Vertreibung aus Deep nicht bei mir gefunden worden war. Beides wurde den Fordernden übergeben, die durch den Dolmetscher ein großes Erstaunen äußern ließen über die Dürftigkeit dieser Ernte und die sich zu uns an den Tisch setzend allerlei Fragen laut werden ließen. Dann aber stand der jüngere der beiden Offiziere wieder auf, dem Pfarrer winkend und ohne weitere Begleitung mit ihm das Zimmer verlassend. Doch unsere Angst war nun nicht mehr gar so groß.

 

Es möchte fast eine Viertelstunde vergangen sein, da traten die beiden wieder ein. Der Dolmetscher musste übersetzen, dass wohl ein Irrtum bei der Mitteilung vorliege, auf die hin man hier großen Reichtum gesucht habe. Ja, man wolle die zwei gegebenen Sachen wieder zurückerstatten. So geschah es auch, und wenige Minuten später fuhr das Auto davon. Wir standen staunend da und wurden erst allmählich gewahr, wie tief bewegt der Pfarrer war, den Tränen nahe. Nun erfuhren wir, was vorgegangen war. Der junge Offizier, der zum zweiten Male mit dem Pfarrer hinausgegangen war, hatte ihn, als sie allein drüben im Studierzimmer gewesen waren, stockend gefragt: „Kannst du noch beten?“ – „Ja, ich kann beten“, war die Antwort. „Auch für mich?“ kam die zweifelnde Frage. –  „Ja, auch für dich kann ich beten.“ Dann einige Minuten Stille und nun ein Flüstern: „Würdest du mich auch segnen?“ – „Ja, ich will dich segnen.“  Dann kniete dieser junge Offizier nieder und hat sich segnen lassen und ein Gebet gehört für das Heil seiner Seele. Schluchzend und in überströmender Dankbarkeit hat er dem Pastor immer wieder die Hände geküsst, in fassungslosem Staunen stammelnd: „Dass du MICH segnest!“

 

Deep in FriedenszeitenDeep in FriedenszeitenNicht nur unseren Pfarrer, sondern uns alle hat dies sehr tief bewegt und ergriffen und ist uns zur Mahnung geworden, am Beginn der langen Monate hinter dem eisernen Vorhang und inmitten von viel Grausamkeit und Hass, dass auch im Kreis unserer Feinde Seelen still kämpfen, die sich zu Gott flüchten möchten, heraus aus all der furchtbaren Gottlosigkeit und dem Machtrausch ihrer Kameraden. „Segnet, die euch fluchen“, das war erschütternde Wirklichkeit vor unseren Augen geworden.

 

Nach Monaten schwerster Wanderschaft mit dem großen Teil seiner mit ihm verjagten Gemeinde, kehrte unser Pfarrer wieder in das verwüstete Pfarrhaus und Dorf zurück. Sein langes, tapferes Ausharren dort in größter Dürftigkeit, Not und Gefahr ist vielen zum Segen geworden. Auch wir sind noch einmal für 24 Stunden dort eingekehrt und erlebten etwas von dem, was uns das Wort sagt: „Hier ist Geduld und Glaube der Heiligen.“

 

In dieser Zeit wurde eine Dorffrau, die sich dem bösen Willen der Feinde zu widersetzen wagte, von einem Soldaten durch die Brust geschossen. Als man die, wie schon klar wurde, tödlich verletzte Frau doch noch in das Krankenhaus nach Treptow bringen wollte, besuchte der Pfarrer sie vorher noch einmal, um mit ihr zu beten.Als er sein Gebet schloss, flüsterte die Kranke: „Herr Pastor, Sie haben noch etwas vergessen.“ Er fragte sie, was sie meine und da kam wirklich mit letzter Kraft die Bitte: „Sie haben vergessen, für den Mann zu beten, der auf mich geschossen hat!“ Und da haben sie dann miteinander um dessen Seele gebetet, dass Gott ihm vergeben möge und ihm einstmals aufhelfen möchte zu seinem himmlischen Reich. Die Frau starb noch auf der Fahrt, ehe sie das Krankenhaus erreicht hatte. Der Pastor durfte ihrer gedenken, als einer, die im Frieden mit Gott und den Menschen heim gerufen worden war. 

                                                           Rita von Gaudecker

 

Alle Fotos stammen aus dem Archiv des Helferbundes Rita v. Gaudecker